Shaykh Abdal Hakim Murad, auch bekannt als Professor Timothy Winter, ist einer der bekanntesten muslimischen Intellektuellen unserer Zeit. Er ist an einer Reihe von Projekten beteiligt: von der Leitung eines Colleges im Vereinigten Königreich bis hin zu Vorträgen auf der ganzen Welt sowie dem Verfassen von wissenschaftlichen und polemischen Werken (eines seiner Bücher haben wir hier rezensiert). Seine Analysen verdienen Aufmerksamkeit. Vor drei Jahren hielt er einen Vortrag über die Moderne und ihre Herausforderungen. Diskussionsgegenstand war das „Reiten des Tigers“, ein Ausdruck, der einen konfrontativen Ansatz (entweder feindlich oder freundschaftlich) gegenüber der Moderne im Gegensatz zu einem Rückzug von ihr beschreibt.
Der aktuelle Stand der Dinge
Die Moderne baute die Hierarchien der Vergangenheit ab, als Republiken und Bürgerpflichten an die Stelle von Monarchien und religiöser Brüderlichkeit traten. Vorangetrieben von den Denkern der Aufklärung und denjenigen, die sich für ihre Sache einsetzten, ebnete die Moderne den Weg zu unserer heutigen Situation. Die freie Marktwirtschaft verspricht, jeder könne aufgrund seiner Verdienste erfolgreich sein, während der Nationalstaat den Bürgern ein öffentliches Forum bietet, in welchem sie ihre Überzeugungen zum Ausdruck bringen können.
Doch unter der pluralistischen und offenen Oberfläche lauert eine wachsende Dissidenz. Populismus und Globalismus kämpfen in den Vereinigten Staaten und im Vereinigten Königreich gegeneinander, während die New Yorker gegen den Amazon-Hauptsitz demonstrieren und Großbritannien den Brexit vorantreibt. Eine wachsende Zahl von Dissidenten idealisiert den „Traditionalismus“ und praktiziert gleichzeitig Fremdenfeindlichkeit. Die Antwort des liberalen Establishments ist eine paradoxe Forderung nach Toleranz, die jede nicht-liberale Ideologie unterdrückt.
Die Ausbreitung der Moderne, die der Aufklärung folgte, fand nicht nur in der westlichen Welt statt. China, das zwar autoritär und illiberal ist, hat sich in seiner Gesellschaft und Familienstruktur weiter atomisiert, und es wird erwartet, dass Twitter bei den indischen Wahlen 2019 die dominierende Plattform sein wird. Dieselben Konzepte, kulturellen Herausforderungen und Technologien haben auch in der muslimischen Welt Einzug gehalten, was daran ersichtlich wird, dass Hauptstädte mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung westlich kommerzialisierte Weihnachtsfeste feiern und ihre Bürger über soziale Medien online neue gemeinschaftliche Identitäten schaffen. Die liberale Ideologie mag viele Gesprächen umgestalten, aber mit der zunehmenden Verbreitung der Moderne wächst auch die Sorge: Wie sollte die richtige islamische Antwort auf die Moderne aussehen?
Julius Evola und die extreme Rechte
Shaykh Murad beginnt seinen Vortrag mit einem Überblick über europäische Dissidenten, die sich der Moderne widersetzten, allen voran der umstrittene Julius Evola, aus dessen Buchtitel der Satz „Riding the Tiger“ stammt. Murad beginnt damit, Evolas rassistische und faschistische Verbindungen zu erwähnen, aber im Geiste des islamischen Glaubens, dass die Weisheit Eigentum des Gläubigen ist, klammert Murad das Schädliche aus und hält sich an das Nützliche. Daraufhin betrachtet er den Rest des evolanischen Denkens, von dem er glaubt, dass es für ein islamisches Verständnis der Moderne allgemein förderlich sein kann.
Hier geht Murad auf die vorherrschende Ideologie der Moderne, den Liberalismus und dessen paradoxe Intoleranz ein, obwohl jener behauptet, eine Lehre der Toleranz zu sein. Er erklärt, dass diese Intoleranz in jüngster Zeit als Reaktion auf die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Europa, die wiederum eine Reaktion auf den monokulturellen Pluralismus ist, den die vorherrschende liberale Ordnung aufrechtzuerhalten versucht, immer deutlicher geworden ist. Murad weist auf ein inhärentes Gewaltelement in der ultimativen Intoleranz des Liberalismus gegenüber jeder nicht-liberalen Ideologie hin, was bedeutet, dass nicht nur rivalisierende moderne Ideologien wie Rassismus und Kommunismus, sondern auch ältere Traditionen wie der Islam nicht willkommen sind, wenn sie nicht so umgestaltet werden, dass sie keine „Bedrohung“ mehr darstellen. Mit anderen Worten: Die Toleranz des Liberalismus ist meist nur eine Fassade, die einen homogenisierenden Antrieb verdeckt.
Murad kommt auf Evola zurück und bezeichnet ihn als „prophetische und doch tragische Figur“: ein Mann, dessen Einsichten über die Moderne nützlich und unheimlich genau in ihren Vorhersagen sind, aber durch faschistische Vorstellungen und eine unglückliche Vernachlässigung des Islams, „Europas dritter Erbe“, verdorben werden. Evolas Ideologie, die als Traditionalismus bekannt ist, ist ein antimodernistischer Pessimismus, der von ungehörten Warnungen vor dem Schicksal der modernen Welt inspiriert ist. Evola sah sich selbst als eine prophetische Figur, erklärt Murad, ein „Aristokrat der Seele“, der die fade und wertlose Welt, die die Moderne schuf, „im Griff der Schwerkraft“ abwärts beschleunigt sah. Evola und sein muslimisches Pendant René Guénon glaubten, dass die Menschheit ihr letztes Zeitalter erreicht hat. In ihrer Vorahnung des Tags des Jüngsten Gerichts spotteten diese Traditionalisten über passive Zustimmung und gingen davon aus, dass sie in der Lage seien, gegen die Bestie anzukämpfen. Ihre Zuversicht beruhte auf der wesentlichen Schwäche der niederträchtigen und materialistischen Werte der Moderne und auf ihrem Glauben an die menschliche Fähigkeit, über traditionelles Wissen Zugang zu spirituellen Energien zu erhalten. Daher das Gebot, „den Tiger der Moderne zu reiten”.
Murad weist kurz auf die Verbindung zwischen traditionalistischem Denken und der heutigen europäischen extremen Rechten hin. Er behauptet, dass neben ihren fremdenfeindlichen Motiven auch eine Enttäuschung über die Moderne und die Einsicht besteht, dass der Verlust der Heiligkeit, die im Herzen der Tradition liegt, ein schrecklicher Fehltritt für die Menschheit ist. Die Brücke, die die einwandererfeindliche und rassistische Haltung der Rechtsextremen mit ihrer Traditionspflege verbindet, ist der Verlust der Identität. In dem Maße, in dem die Monarchie gegen die Demokratie, die Hierarchie gegen die Gleichheit und die historischen Helden gegen prominente Stars ausgetauscht werden, wird die nationale Identität anfällig für eine Entwurzelung.
Die Aufklärung brachte den säkularen Nationalstaat hervor, der jahrhundertelang als Nachfolger der alten christlichen Ordnung überlebte. Doch heute befinden sich die europäischen Nationalstaaten in einer Identitätskrise. Murad erklärt, dies sei das Ergebnis des Angriffs der Postmoderne auf die Verehrung des menschlichen Subjekts durch die Aufklärung, die an die Stelle des Göttlichen getreten war. Kurz gesagt, die nationale Alternative zur usurpierten religiösen Weltsicht hat sich selbst abgeschafft, und darin nahmen laut Murad nicht nur die europäische extreme Rechte, sondern auch die illiberalen Strömungen, die sich überall auf der Welt manifestieren, ihren Ursprung. Es scheint, dass die Moderne nicht zum Spirituellen zurückführen kann.
Muslime heute: Eine Fixierung auf das Oberflächliche
An diesem Punkt lenkt Murad seine Aufmerksamkeit auf die heutigen Muslime und ihre Auseinandersetzung mit der Moderne. Er stellt fest, dass Muslime anderen Menschen insofern nicht unähnlich sind, als sie materialistisch sind und nach Identität suchen, ohne zu wissen, was es bedeutet, Muslim zu sein. Infolgedessen fixieren sich die Muslime auf das Oberflächliche und vernachlässigen das Wesentliche, was zu seltsamen Erscheinungen führt, wie z.B. europäischen Konvertiten, die sich regelmäßig mit Thawbs und Turbanen kleiden, und einem Islam, der sich nicht in die lokale Kultur einfügt. Er untermauert seine Behauptungen mit dem Verweis auf eine neurologische Studie eines seiner Studenten, aus der hervorging, dass westliche Muslime nicht verinnerlichen, was sie zu glauben vorgeben. Dies ist eine historische Abirrung, und Murad veranschaulicht diese Tatsache, indem er die Konversion der indonesischen Insel Java zum Islam betrachtet.
Der Islam gelangte nicht mit einer Armee, sondern mit muslimischen Händlern nach Java, das durch den Indischen Ozean von der zusammenhängenden muslimischen Welt getrennt ist. Unter ihnen befanden sich die quasi mythischen Wali Songo, heilige Prediger, die maßgeblich an der Verbreitung des Islam unter der einheimischen Bevölkerung beteiligt waren. Murad stellt fest, dass sich die Wali Songo auf den Kern der Religion konzentrierten. Äußerlich passten sie sich der lokalen Kultur an, änderten ihre Kleidung und sogar ihre Namen. Sie verfassten Gedichte in der Landessprache, wobei sie sich an bestehende poetische Formen anlehnten, diese aber mit islamischen Inhalten füllten. Bis zum heutigen Tag werden diese Verse von javanesischen Muslimen auswendig gelernt und gesungen. Für Murad ist dies die richtige Methode der da’wah, der Pflicht, die Menschen zum Islam zu rufen, und zwar auf eine Weise, die am wenigsten entfremdet und das Wesentliche des Islam in den Vordergrund stellt.
Die Besessenheit mit dem Formalismus ist nicht nur kulturell unklug, sondern führt auch zu einem Legalismus, der den Menschen das Verständnis für den ethischen Kern des Islam vorenthält. Mehr als einmal argumentiert Murad, dass ein Muslim mit einem stärker nach innen gerichteten Islam die neuen ethischen Fragen, die die Moderne aufwirft, relativ leichter bewältigen kann, zumindest auf einer persönlichen Basis. Insgesamt vertritt Shaykh Murad die Ansicht, dass der Islam traditionell heterogen ist, was auch gut so ist, und dass Muslime heute eher prinzipienorientiert als formalistisch sein sollten.
Murad lehnt sich ausdrücklich an Vincent Mansour Monteil an, einen französischen Konvertiten, der ein Buch mit dem Titel “Die fünf Farben des Islam” geschrieben hat, in dem er aufzeigt, dass der Islam ein Regenbogen von Kulturen ist, die sich zu einem einzigen weißen Prisma des tawhid zusammenfügen. Monteil war der Ansicht, dass dieses Verständnis der anpassungsfähigen, aber nicht transformierbaren Natur des Islam der Schlüssel für den Islam in Europa ist. Monteils Empfehlung, wie dies für die europäischen Muslime erreicht werden kann, richtet sich an die einheimischen Konvertiten und die Kinder von Einwanderern. Die erste Einwanderergeneration steckt in einem Dreieck aus ihrem einheimischen Islam, dem rohen Islam und der Moderne fest. Andere Muslime hingegen befinden sich in einer einfachen Dialektik mit dem rohen Islam auf der einen und der Moderne auf der anderen Seite. Murad gibt Monteils Überzeugung wieder, dass dies eine Herausforderung ist, die bewältigt werden kann, und zeigt, dass er einen totalen Rückzug aus der modernen Welt ablehnt.
Die Torheit der Akzeptanz der Moderne
Murad wendet sich ebenfalls gegen eine Akzeptanz der Moderne. Ein Teil der Schwierigkeit, auf dem Tiger zu reiten, ist seine ständige Veränderung. Das einzig Gewisse an der modernen Moral ist, dass sie in 20 Jahren eine andere sein wird, was verhindert, dass sie für Muslime eine brauchbare Option darstellt. Er verweist auf das Beispiel der Reformer im frühneuzeitlichen Ägypten, die die ersten westlichen Universitäten eröffneten und Frauen ausschlossen, was eigentlich nicht dem traditionellen Islam, sondern europäischen Normen entsprach: Da die modernen Trends im Westen ihren Anfang nehmen, spielen die muslimischen Modernisierer ein endloses Spiel der Nachahmung, im Glauben, dass die Europäer moralisch überlegen sind. Murad argumentiert, dass dies ein Grund für die Muslime ist, einen prinzipientreueren (er verwendet den Ausdruck usul) Moralkodex zu entwickeln. Er scheint einen allzu legalistischen und oberflächlichen Ansatz zu fürchten, weil dies zu einer Cafeteria-Behandlung der Moderne führen könnte, bei der man eine Auswahl danach trifft, ob sie äußerlich mit einer Fiqh-Regel übereinstimmt, ohne auf die tieferen Auswirkungen zu achten. Murad deutet an, dass eine solche Herangehensweise an die Moderne, die für viele Muslime heute charakteristisch ist, schizophren ist und einen Mangel an Selbstvertrauen verrät.
Murad ist jedoch kein völliger Pessimist in Bezug auf die Lage der Muslime in der Moderne, und dort beginnt er, von Evola und den traditionalistischen Philosophen abzuweichen. Er erinnert den Zuhörer daran, dass Muslime in aller Welt weiterhin fünfmal am Tag beten und den Ramadan fasten, ohne sich von den modernen Bedingungen beirren zu lassen. Der Koran wird weiterhin rezitiert, und die Muslime betreiben weiterhin Moscheen. Das Wichtigste ist jedoch, dass der tawhid bestehen bleibt und sich die Götzen der Moderne als unfähig erweisen, ihn in den Muslimen zu verzerren. Wie sehr sie auch ablenken mögen, der Islam bleibt bestehen, und die Muslime können ihre Praxis und ihren Glauben leicht wieder aufnehmen.
Ein innerer Rückzug
Shaykh Murad schließt seine Analyse in Fürsprache eines Rückzugs des Gläubigen aus der modernen Welt ab, nicht im wörtlichen Sinne, sondern eher im Sinne eines inneren Rückzugs. Er mildert die isolationistische Implikation des eschatologischen Hadith über Gläubige, die in die Berge fliehen, anhand der islamischen Verurteilung des Mönchtums und des prophetischen Beispiels für gesellschaftliches Engagement ab. Er fasst den von ihm vorgeschlagenen Ansatz als „Loslösung bei gleichzeitigem Engagement“ zusammen, was eine Annahme der modernen Kultur und aller materiellen Güter, die sich uns bieten, in Verbindung mit einem festen Bekenntnis zum islamischen Glauben beinhaltet. Er stellt fest, dass wir heute paradoxerweise tiefer nach innen gehen müssen, um unseren Glauben zu stärken, weil die Realität des Muslims nach innen gerichtet ist (d.h. Gott wird in der inneren Stille gefunden). Damit öffnet sich die Tür zu einem größeren spirituellen Leben, als wir es sonst vielleicht erfahren würden. Er bekräftigt, dass die Moderne oberflächlich betrachtet nicht menschlich ist und daher Einsamkeit erforderlich wird, aber das Verlassen unserer Gemeinschaften nicht das ist, wozu die Tradition auffordert.
Shaykh Murads Botschaft lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Trotz unserer Besorgnis über die Moderne bleibt der Islam erhalten. Die Grundüberzeugungen und grundlegenden Praktiken des Islam sind unangetastet. Die Moderne ist eine Bedrohung und kein Freund zum Umarmen, aber es ist nicht klug, sie frontal zu bekämpfen. Vielmehr müssen wir lernen, mit dem Tiger Seite an Seite zu leben.
About the Author: Sami Omais is a graduate in political science and European history. His interests include traditional Islamic sciences, geopolitics, Middle Eastern history, and Islam in America.
About the Translator: Ahmed Ahmed is a student and research assistant at the Institute of Islamic Theology, Osnabrück, Germany.
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