Gott ist keine Bank

Einer der Fallstricke der gegenwärtigen Religiosität ist ein Missverständnis gegenüber Gottes Beziehung zu den Menschen. Unser Verständnis von Gott ist wesentlich dafür, wie wir mit religiösen Verpflichtungen und dem Leben im Allgemeinen umgehen. Gott als einen gleichgültigen „Uhrenmacher“ zu verstehen, der sich nicht für unser tägliches Leben interessiert, führt zu Apathie gegenüber der Frage, ob er überhaupt Gebote aufgestellt hat, denen die Menschen folgen sollten, was einen säkularen Lebensstil mit sich bringt. Gott als rachsüchtige Gottheit zu verstehen, ein gängiges Ergebnis der alttestamentlichen Exegese, kann eine trotzige Beziehung zu Gott befördern und möglicherweise von Religion wegführen. Gott als ein reaktionäres, emotionales Wesen zu begreifen, das eine Nation ohne Vorwarnung aus geringem oder völlig ohne Grund dezimieren kann, wird vermutlich keine enge Beziehung zum Göttlichen fördern, die auf Liebe und Barmherzigkeit basiert. Diese theologischen Annahmen mögen offensichtliche Fehlvorstellungen sein, aber es gibt noch eine weiteres, schädlicheres Gottesverständnis: den transaktionalen Gott.

Was ist ein transaktionales Gottesverständnis?

Einen großen Teil unserer Tage verbringen wir damit, für unseren Lebensunterhalt zu arbeiten. Nach stundenlangem Schuften erhalten wir Schecks von unseren Arbeitgebern und eilen glücklich zur Bank. Dort tauschen wir unsere Schecks gegen unsere gewünschte Belohnung ein: Geld. Geld ist die Frucht unserer Mühen, und hätten wir unsere Arbeit vernachlässigt, oder sie gar nicht geleistet, würden wir zweifellos eine defiziente Bezahlung erwarten. Was, wenn wir unentwegt hart arbeiten und unsere Schecks bei der Bank einreichen, aber ohne Erklärung abgelehnt werden? Ein paar Mal könnten wir es tolerieren. Vielleicht war die Bank geschlossen. Vielleicht gab es einen IT-Fehler. Durchaus möglich, dass der Arbeitgeber einfach vergessen hat, einen Scheck auszustellen. Irgendwann, nach so vielen Fällen unbelohnter Mühe, würden wir die Arbeit ganz einstellen. Das wäre eine rationale Entscheidung, da unsere Jobs zu Recht transaktional sind. Was, wenn wir mit Gott genauso umgehen würden?

Viele von uns verkünden freud- und hoffnungsvoll, dass wir mehr beten, mehr spenden und vermehrt andere rechtschaffene Leistungen erbringen, wenn ein wichtiges Vorstellungsgespräch, eine Prüfung oder eine Frist näherrückt. Wir glauben, Gott werde uns alles geben, was wir uns wünschen, wenn wir unseren Dienst an Gott ein paar Wochen lang aufpolieren. Unabhängig davon, ob wir unsere angestrebten Ziele erreichen, folgt normalerweise dieselbe Entwicklung: ein Abwärtstrend unseres spirituellen Eifers für Gott. Es fällt schwer zu verstehen, weshalb das passiert, aber geht man einmal in sich, taucht eine ernüchternde Erkenntnis auf: Wir beteten um weltlicher Gewinne willen und nicht aus aufrichtiger Hingabe zu Gott. Das erste Problem bei einer solchen Transaktion ist die potenzielle Ungültigkeit unserer gottesdienstlichen Handlungen. Wird Gott unsere rechtschaffenen Taten akzeptieren, wenn ihnen andere Motive unterliegen, als Ihm zu dienen? Werden sie überhaupt als „rechtschaffen“ angesehen?

Welche Implikationen hat es, Gott als eine transaktionelle Gottheit aufzufassen? Viele von uns werden feststellen, dass unsere Hoffnungen trotz gut getimter Intensivierung unserer Taten unerfüllt bleiben. Das kann zunächst zu einer kurzlebigen Enttäuschung führen, woraufhin eine Rückkehr in diesen unsteten Kreislauf folgt. Mit der Zeit werden wir müde, sind erschöpft von dem Herzschmerz unserer vielen Hoffnungen, die trotz unserer vorangegangenen spirituellen Leistungen nie erreicht wurden. Am Ende geben wir vielleicht ganz auf und begründen das mit unseren eigenen empirischen Erfahrungen. Wenn Gott uns belohnen soll, wenn wir mehr beten, und Er es scheinbar nicht tut, warum sollten wir dann überhaupt beten? Das ist das übliche Resultat eines transaktionalen Gottesverständnisses. Es ist eine Quelle spiritueller Stagnation, und wenn wir es versäumen, uns diesem fehlerhaften Gottesverständnis zu stellen, setzt sich in uns ein Kreislauf der Unaufrichtigkeit in Bezug auf unseren spirituellen Zustand fort.

Wie sollten wir Gott sehen?

Die Beziehung zwischen Gott und seinen Dienern ist einzigartig. Gott ist weder ein Geschäftsmann noch eine Bank, noch darf er so betrachtet werden. Umm Salamah berichtete:

Jene Taten, welche der Gesandte von Allah, Frieden und Segen auf ihm, am meisten liebt, sind solche, die man regelmäßig ausübt, seien sie auch noch so klein. (Sahih; Musnad Aḥmad 26178)

Alles, was der Gesandte Gottes liebt (Gott segne ihn und schenke ihm Frieden), wird auch von Gott geliebt. Um die Bedeutung konstanter Taten zu verstehen, müssen wir das Gegenteil dazu verstehen: Inkonsistenz. Inkonsistenz bei unseren Taten resultiert größtenteils aus spirituellen Höhen und Tiefen, die von den verschiedenen Gezeiten des Lebens beeinflusst werden. Uns selbst aus diesen Zyklen zu lösen, bedeutet, unseren spirituellen Fokus weg vom Leben und hin zur Ewigkeit zu verlagern. Wir müssen Taten ausschließlich aus Achtung vor Gott ausführen, ohne Erwartung einer Gegenleistung. Wir sollten jedoch nicht unbedingt davon ablassen, Strafe für unsere Sünden zu erwarten. Stattdessen sollten wir uns bewusst machen, dass Gott uns die Vergebung unserer Sünden ermöglicht. Das ist es, was es bedeutet, eine gute Meinung von Gott zu haben, und das beste du’aa’ (Gebet) ist eine gute Meinung.

Wie sollen wir mit unseren gottesdienstlichen Handlungen umgehen?

Wir hören oft, dass unsere gottesdienstlichen Handlungen „Gott zuliebe“ geschehen müssen. Das ist zwar die edelste und beste Intention, aber islamische Theologen nennen noch zwei andere gültige Intentionen. Nämlich, in Reihenfolge zunehmender Vornehmheit, den Wunsch, der Hölle zu entgehen oder in den Himmel zu kommen. Unsere Intention bei der Durchführung von gottesdienstlichen Handlungen müssen jenseitig sein, und solche, die für weltliche Zwecke durchgeführt werden, sei es Ansehen, Lob oder materieller Reichtum, gelten als theologisch inakzeptabel. Dies zu verinnerlichen, zwingt uns dazu, uns unseren spirituellen Zuständen zu stellen. Dabei werden wir feststellen, dass wir nicht so fromm sind, wie wir glauben, und dass wir womöglich keine noblen Intentionen hatten. Was ist mit einem Schein der Frömmigkeit, der den ganzen Tag währt, bis wir uns nachts in die Privatsphäre unserer Häuser zurückziehen? Ist es Frömmigkeit, wenn wir unsere Pflichten in der Öffentlichkeit erfüllen, aber uns im Privaten durch häusliche Gewalt oder Pornografiesucht versündigen? Unsere Niedrigkeit angesichts göttlicher Gebote zu erkennen, mag vielen Grund zur Panik bieten, aber es ist wichtig, gut über Gott zu denken. Unser Verständnis von Ihm ist wesentlich für die Entwicklung unseres spirituellen Starkmuts, und wir müssen akzeptieren, wie oberflächlich unsere Herzen sind, bevor wir beginnen, sie von Unreinheit zu läutern.

Erwarten wir eine sofortige Belohnung für unsere Taten, zeigt dies, dass wir Ansprüche erheben. Es weist darauf hin, dass wir einen Verhaltensmaßstab für Gott festgelegt haben, anhand dessen wir beurteilen, ob er der Anbetung würdig ist, was zu Heuchelei und Arroganz Ihm gegenüber führt. Warum erwarten wir eine sofortige Belohnung für unseren Dienst an Gott, aber keine sofortige Bestrafung für unsere Sünden? Korrigieren wir unsere falschen Vorstellungen über Ihn, kann dies zu einer Abnahme unserer gottesdienstlichen Handlungen führen, weil wir erkennen, dass sie unaufrichtig waren. Diese Erkenntnis muss jedoch das Bestreben motivieren, konstante Leistungen zu etablieren, deren Erbringung nicht vom Auftreten einer weltlichen Entschädigung abhängt.

Umgang mit unseren spirituellen Zuständen

Einzusehen, dass deine gottesdienstlichen Handlungen künstlich, transaktional und unaufrichtig sind, kann überwältigend sein. Sei gewiss, hätte Gott nicht beabsichtigt, dass du diese Einsicht überwindest, wärst du wahrscheinlich in einem Zustand der Unachtsamkeit geblieben. Sei gewiss, dass du nicht in Ungnade gefallen bist, sondern die Schleier gelüftet hast, die deine Blindheit als spirituelle Erhabenheit maskiert hatten. Sei gewiss, dass der erste Schritt auf dem Weg zu Gott darin besteht, sich in Demut zu üben, unmittelbar gefolgt von einer Phase der tawbah (Reue). Nimm Gottes Ruf an und wende dich von deiner Unachtsamkeit ab, sowohl mit der tief entschlossenen Absicht, dich zu bessern, als auch mit langsamem, stetem Fortschritt. Denn die beabsichtigten Ziele sind wichtiger als das tatsächliche Ziel, das du erreichst. Vertraue darauf, dass Gott dir deinen Fortschritt erleichtern wird.

Eine praktische Lösung

Stelle dir drei Gruppen vor. Es sind allgemeine Kategorien, unter die meiner Erfahrung nach die meisten Menschen fallen. Die erste bilden normative Muslime. Sie haben an den meisten Tagen mit ihren Gebeten zu kämpfen, aber vor einer Prüfung oder einer Leistungsbewertung bei der Arbeit begeben sie sich häufig in einen Zustand, der Frömmigkeit vorgibt. Sie setzen diesen Zyklus fort und verpassen das Jahr über bis auf zusammengenommen zwei Monate die meisten Gebete. Wenn sie ein hohes Alter erreichen und sterben, haben sie wahrscheinlich bestenfalls nur 10 % ihrer Pflichtgebete verrichtet.

Die zweite Gruppe besteht aus eifrigen Aspiranten, die Gottes Belohnung erstreben. Sie führen einen regelrechten Krieg gegen ihre Apathie. Sie zwingen sich zu Frömmigkeit, aber nach dem vierten Monat, nachdem sie nur spirituelle Stagnation und keine wesentlichen Veränderungen in ihrer innerlichen Lebensfreude oder ihrem weltlichen Gewinn gesehen haben, sind sie völlig verausgabt und verfallen den Rest des Jahres über in spirituelle Bedrängnis. Es folgen Reinigung und Neustart. Wenn sie es vermeiden, völlig auszubrennen und aufzugeben, altern sie und sterben, nachdem sie ein Drittel der Gebete ihrer Lebenszeit verrichtet haben.

Die dritte Gruppe umfasst Muslime, die die Gefahren einer Transaktionsbeziehung mit Gott erkannt haben. Diese Muslime geben zu, dass ihre gottesdienstlichen Handlungen unzulänglich sind, und erkennen, dass sie Gott in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht begegnen können. Sie erfahren einen inneren Wunsch nach Wandel und beginnen, die Dinge Schritt für Schritt anzugehen. Im ersten Monat widmen sie sich trotz spiritueller Höhen und Tiefen dem Morgengebet. Nachdem sie sich an das Morgengebet gewöhnt haben, nehmen sie das Vormittagsgebet auf sich. Einen Monat später, nachdem sie sich an die ersten beiden Gebete gewöhnt haben, fügen sie das Nachmittagsgebet hinzu. Ein paar Monate später beten sie gewohnheitsmäßig alle fünf täglichen Gebete ohne Interesse an weltlicher Entschädigung. Das ist ein Zeichen dafür, dass sie wahrhaft aufrichtig sind. Keine enttäuschende Note, familiäre Zwietracht und kein Kummer können ihre Entschlossenheit beeinträchtigen, ihre Gebete durchzuführen. So wie Menschen täglich ein körperliches und emotionales Bedürfnis verspüren, zu essen, weckt diese dritte Gruppe den Durst der Seele nach der Nähe zu Gott und entwickelt ein Bedürfnis zu beten. Die Fortsetzung dieses Prozesses verstärkt ihre Frömmigkeit und erhöht ihr Ansehen beim Göttlichen weiter.

Jeder vernünftige Mensch würde lieber zur dritten Gruppe gehören, da die ersten beiden von spiritueller Stagnation und Inkonsistenz geplagt werden. Sie sind ein Produkt unserer Sucht nach umgehender Belohnung. Mit unserem Gottesverständnis achtsam umzugehen, bedeutet, unseren spirituellen Zustand zu diagnostizieren, wodurch die Frömmigkeit im Herzen zuzunehmen beginnt. Wir müssen uns mit den psychologischen Veranlagungen auseinandersetzen, die uns von der Gesellschaft anerzogen werden, da uns die Pop-Religion gelehrt hat, Gebet sei Mühsal, und wir seien dazu bestimmt, unsere Mühen bei Gott gegen ein leichtes Leben einzulösen. Aber Gott ist keine Bank, und wir sind unwürdig.


About the Author: Wassim Hassan is a graduate in Biology & Chemistry. He is currently a medical student as well as a student of traditional Islamic disciplines. His interests include Islam, Western Philosophy, Bioethics, and the Arabic Language.

About the Translator: Jasmin Weinert is a German convert to Islam and a graduate in Middle Eastern studies and social anthropology based in Cairo, Egypt where she now works as an English to German translator. She continues to study Arabic and Islam with a focus on tasawwuf.

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